«Dorf, Städtli oder Stadt?»

Kategorien Museum / Ausstellung, Obwalden, Tradition

Wie ist das bei dir, wenn du einen Ort besuchst? Hast du dann auch das Gefühl, wenigstens ein wenig über die Geschichte erfahren zu müssen? Bei mir auf jeden Fall ist das so. Aber wie so oft, erkundet man zuerst die Orte in der Ferne bevor man die besucht, die nahe liegen. Im letzten Jahr hab ich mich dann doch auf die Spuren des Kantonshauptorts von Obwalden gemacht und schloss mich in Sarnen einer geführten Tour an.

Burg Landenberg oberhalb Sarnen

Wie die Zentralbahn früher hiess

Am Bahnhof lernten wir den Dorfführer Consti kennen. Herzlich und voller Enthusiasmus begrüsste er uns und legte auch gleich los. «Wir stehen hier bereits an einem geschichtsträchtigen Ort. Hier wo der heutige Bahnhof Sarnen steht, war früher nämlich ein Bachbett. Zweifellos hat der Bahnhof respektive die Brünigbahn, heute Zentralbahn, viel zur Entwicklung des Kanton Obwaldens beigetragen. Ihre Bedeutung wurde von den Initianten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts derart hoch eingeschätzt, dass sie den Bach Melchaa, mit seinem Wasser aus der Gegend des Bruder Klaus, umleiteten Richtung Sachseln in den Sarnersee. So wurde die Schmalspurbahn, nebst einer etwas waghalsigen Strasse nach Hergiswil, einem mühsamen Wanderweg über den Renggpass und natürlich dem Schiffsweg um den Lopper, das Tor zur Welt. Sie brachte einerseits Touristen und erlaubte den Obwaldnern andererseits den Ausgang aus dem von hohen Bergen geschützten Lebensraum. Aber gehen wir doch weiter zum Dorfplatz.»

Vorbei an prunkvollen Bauten, in denen sich im Erdgeschoss Cafés und Verkaufsläden befinden, laufen wir zum Dorfplatz.

Dorfplatz mit Dorfbrunnen heute

Dorfplatz

«Wir stehen hier auf dem Dorfplatz, dem Zentrum von Sarnen. Am 14. August 1468 zerstörte ein Brand das Dorfzentrum fast vollständig. Beim Wiederaufbau entstand der heute noch sichtbare zweiteilige Platzraum, in den die wichtigsten Dorfstrassen strahlenförmig münden. Das Zentrum markiert der sechseckige Dorfbrunnen von 1604.» Und dann kommt plötzlich die Frage in der Gruppe auf: «Wieso befinden wir uns eigentlich auf einer Dorfführung. Sarnen ist doch eine Stadt oder zumindest ein Städtli, nicht?»

Dorf oder Stadt?

Für die Teilnehmenden, die aus Obwalden stammen ist die Antwort klar: «Sarnen ist ein Dorf!». Aber stimmt das? Consti klärt die Frage auch umgehend: «Gemäss Bundesamt wird die Einwohnerzahl von 10’000 als Schwelle vom Dorf zur Stadt bezeichnet. Dies ist eine alte Tradition, die aktuell wegen der Fusionierung vieler Orte umstritten ist. Die Gemeinde Sarnen würde zusammen mit den Aussenbezirke Stalden, Wilen, Kägiswil und Ramersberg mit 10’453 Einwohner (Stand: 31.12.2019) die erforderliche Grösse einer Stadt erfüllen. In der Tradition ist das Dorf Sarnen mit seinen aktuell 6’258 Einwohnern (Stand: 31.12.2019) aber eindeutig ein Dorf und das ist auch gut so».

Dorfplatz mit Dorfbrunnen um 1900

Nebst dem Dorfbrunnen zieht noch etwas anderes die Blicke auf sich – der Pranger vor dem Rathaus. «Er galt mit seinem eisernen Halskragen als Mahnmal für Recht und Ordnung und führte Bestrafte für einige Stunden vor», erzählt uns Consti.

Hextenturm mit Tell-Geschichte

Vorbei am Rathaus, überqueren wir die Brücke und sehen bereits über den Rebbergen, wie die Burg Landenberg auf dem weit ins Tal vorspringenden Landenberghügel thront. Unterwegs erzählt Consti weiter. «Seht ihr den Turm da hinten? Das ist der Hexenturm, obwohl es in Sarnen keine Hexen gibt. Sie soll es gegeben haben. Wenn Naturereignisse wie Seuchen und Hungersnot die Obwaldner heimsuchten, musste natürlich ein Schuldiger her, sogenannte Menschen mit dem bösen Blick. Die meisten finden sich unter den Frauen, was mit deren Verführungskunst zu tun haben soll. Obwaldner reden lieber vom Archivturm, was er heute ist und schon immer war. Neben Vorräten für die einstigen Herrschaften des Wohnturms lagerte hier archivarisches Material und einmal sogar das Pulver für die Geschütze. Letzteres war für die Sarner dann doch zu bedrohlich. Man baute den Pulverturm ins offene Gelände und überliess den Turm dem Staatsarchiv. Das weisse Buch von Sarnen mit der ersten schriftlichen Darstellung der Geschichte von Wilhelm Tell als edelstes Sammelobjekt lagert hier. Es erlangte legendären Ruhm durch Friedrich Schiller».

Landenberg und Pfarrkirche

«So jetzt sind wir hier auf dem Landenberg angekommen», sagt Consti. «Der Landenberg ist heute beliebt zum Heiraten. Die obere Burg von Sarnen, wie sie früher genannt wurde, stand bereits um das Jahr 1000 hier. Die Festung gehörte im Mittelalter zu den grössten Burganlagen der Zentralschweiz». Obwohl wir gar nicht so hoch oben sind, sehen wir bis weit über Sarnen hinaus. Dann zeigt Consti in die Ferne: «Seht ihr die Pfarrkirche dahinten, weit vom Dorfkern entfernt? Sie war ursprünglich sogar vom Dorf getrennt. Es gibt aber Gründe für diesen Standort, denn die im 8. Jahrhundert gebaute Holzkirche war Talkirche und versammelte die verstreut in Weilern lebenden Menschen des ganzen Sarneraatals zu Gotteslob. Erst mit der Entwicklung des Dorfes an der Schnittstelle der Glaubenbergstrasse und der Brünigstrasse geriet die Pfarrkirche ins Abseits. Als in Folge der wachsenden Zahl der Wallfahrer zum Grab des Bruder Klaus in Sachseln eine grosse Kirche gebaut wurde, war das ein Zeichen, dass der Hauptort des Kantons seine Bedeutung mit dem Bau einer mindestens ebenso grossen Kirche unterstreichen musste. Aus Ehrfurcht zur Tradition blieb der Standort erhalten. Zum Glück war der damalige Landammann ein Bruder des Abtes von Einsiedeln, der gerade Architekten und Handwerker für den Bau der weltberühmten Klosterkirche zur Hand hatte. Ein Teamwork unter Brüdern».

An der Sarneraa mit Pfarrkirche und Hexentrum Anfang 20. Jh.

Die schiefen Türme von Sarnen

«Wusstet ihr das Sarnen zwei schiefe Türme hat? Das kam so! Beim Neubau der Pfarrkirche reichte der Platz der Vorgängerin nicht, um die Ausrichtung der Kirche gegen Osten umzusetzen. Die Symbolik des Sonnenaufgangs für den Glauben an die Auferstehung Christi und der Verstorbenen wurde zu Gunsten der grösseren Ausmasse geopfert. Der Bau wurde gegen Norden gerichtet. Der Ost-Turm wurde allerdings nicht abgerissen und behielt seinen Standort mit der alten Ausrichtung. Er steht also auf seine Art schief zur barocken Fassade. Das geht beim Barock natürlich nicht. Symmetrie ist Gesetz. Dem Architekten blieb nichts anderes übrig als den West-Turm entsprechend ebenfalls zu drehen. Der Standort muss also sehr bedeutsam sein, wenn solche Anstrengungen getätigt werden. Tatsächlich darf angenommen werden, dass sich unter dem Ost-Turm eine keltische Kulturstätte befunden hat. Der Blick von hier hinüber zum Stanserhorn am 21. Juni jeden Jahres weist auf den längsten Tag, der mit dem Sonnenaufgang exakt zwischen dem grossen und dem kleinen Horn beginnt. Kelten sind bekannt dafür, dass sie am Stand der Sonne ihren Kalender ausrichten».

Consti sieht auf die Uhr und meint: «So es sind bereits wieder eineinhalb Stunden um und unsere Führung zu Ende. Natürlich gäbe es noch viel mehr zu erzählen». Das glaub ich ihm und wir Teilnehmenden hätten Consti gerne noch weiter zu gehört. Meine Neugier, noch mehr über die Geschichte von Sarnen zu erfahren, ist geweckt. Aber jetzt gibt es zuerst einmal einen Kaffee im Dorf und dann besuche ich noch das Historische Museum Obwalden. Das bietet übrigens noch andere Themenführungen durch Sarnen an, zum Beispiel zu Geschichten von Frauen, die im 16. und 17. Jahrhundert lebten. Was hat Sarnen wohl noch zu erzählen?


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Die Obwaldnerin liebt es zu Reisen und neue Orte und Geheimtipps zu entdecken. Désirée ist eine begeisterte Skifahrerin und deshalb im Winter meistens auf dem Schnee anzutreffen. Auch im Sommer ist sie zum Wandern gerne in den Bergen unterwegs oder geniesst es am Sarnersee auszuspannen. Als Mutter einer kleinen Tochter erlebt sie die Region gerade neu, auf der Suche nach Spass für Gross UND Klein.

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