Hinter den Fassaden von St. Urban

Kategorien Allgemein, Kultur, Museum / Ausstellung, Willisau

Das Kloster St. Urban ist eine der eindrücklichsten barocken Klosteranlagen der Schweiz. Ebenso beeindruckend ist das enorme Wissen von Guide Bernhard Minder, welcher uns auf der öffentlichen Führung mit viel Charme durch die Klosterkirche und den Konvent gelockt hat. Ich erwäge nun ein Philosophiestudium. Oder ein Religionsstudium. Oder beides.

Bevor ich loslege, möchte ich noch eines anmerken: Ich bin weder Religionswissenschaftlerin oder Philosophin, noch habe ich eine dieser beiden Disziplinen studiert (auch wenn ich mich nach diesem Blogbeitrag definitiv dafür einschreiben könnte). Mein Text besteht aus Google-Recherchen oder selbstinterpretierten Worthappen, welche ich entweder auf der Klosterführung oder in meinem Interview mit Bernhard aufgeschnappt habe. So – enjoy.

Eine glatte Sache

Der Bus nach St. Urban schlängelt sich durch eine weiss gezuckerte Winterlandschaft. Es ist der perfekte Tag, um einen Ausflug in die schöne Region Willisau zu machen. Ich sehe die beiden stolzen, roten Kuppelhauben schon von weitem und erreiche bei gefühlt minus 10°C das prächtige Kloster St. Urban. Ich nutze die Zeit vor dem Start der öffentlichen Führungen, um mit der Tollpatschigkeit eines frisch geschlüpften Pinguinbabys das Kloster von aussen zu erkunden. Let’s say: Ich habe ein paar Mal Glück, dass es mich nicht cartoonmässig aufs Glatteis schwartet.

Ehe mich das Glatteis erwischt, findet mich unser heutiger Guide Bernhard Minder. Als Psychiatriepfleger und ehemaliger Bereichsleiter der in der Klosteranlage stationierten Psychiatrie, lernte Bernhard das Kloster zuerst als Arbeitsort kennen. Es liess ihn nicht mehr los. Seine Begeisterung spürt und sieht man in Bernhards funkelnden Augen, wenn er über die bewegte 800-jährige Geschichte des Klosters oder das kontemplative Leben der Zisterzienser redet.

Bernhard Minder brennt für Geschichte und Geschichten.

(Klammerbemerkung an dieser Stelle: Ich gehe meistens ohne grosse Erwartungen und Vorkenntnisse auf meine Blogreisen. Dieses Mal hätte es sich gelohnt, etwas im Voraus zu recherchieren und die wichtigsten Begriffe zu verinnerlichen. Tatsächlich hat es mich fast die ganze Führungsdauer gekostet, bis ich begriffen habe, dass die Zisterzienser Mönche eines Ordens sind und Kontemplation etwas ähnliches wie Mediation ist).

Gegenüber der Klosterkirche steht das älteste Gebäude des Anwesens.

Von Schlupflöchern und anderen Symbolen

Wir starten den kunsthistorischen Rundgang auf dem Vorplatz der Klosterkirche. Bernhard lässt uns sofort teilhaben an seinem gigantischen Geschichtswissen und erzählt uns, wie Kloster und Konvent 1194/95 von Zisterzienser Mönchen erbaut wurden. Heute ist von diesem Bau nicht mehr viel übrig. Obwohl der Orden sich auf die benediktinische Regel (dem Reichtum abschwören) zurückbesinnen wollte, liess Bauherr Malachias Glutz 1711 die mittelalterliche Kirche abrupfen und erbaute die heute bedeutendste barocke Klosteranlage der Schweiz. Eigentlich verstiess die imposante Doppelturmfassade klar gegen die zisterziensische Zurückhaltung. Doch Malachias der Schlingel fand ein ethisches Schlupfloch, indem er den vorderen Teil der Kirche als Laienkirche propagierte.

Weit über die Luzerner Grenze sichtbar: die roten Kuppelhauben.

Bevor wir draussen Frostbeulen ansetzen, führt uns Bernhard ins Innere der Kirche. Ein andächtiges «WOW» strömt durch die Gruppe, als wir durch die riesige Türe aus Eichenholz treten. Anders als in anderen Kirchen ist die Klosterkirche St. Urban fast komplett in weiss gehalten. Das sanfte Morgenlicht fällt nicht durch bunte, sondern durch hohe, farblos verglaste Fenster und verleiht dem Innenraum dadurch noch mehr Leichtigkeit. Eine bewusste Inszenierung des österreichischen Baumeisters Franz Beer.

Trotz zisterziensischer Bescheidenheit wird die Kirche vom einen oder anderen barocken Prunk verziert.

Spiritualität, die ins Leben führt

In Reih und Glied nehmen wir in den Kirchenbänken Platz und lassen unseren Blick durch den luftigen Kirchenraum wandern. Bernhards Erzählungen hauchen den kunsthistorischen Figuren, Symbolen und Elementen in der Kirche regelrecht Leben ein. Nebst dem Engel mit der vermeintlichen Keksdose (eigentlich die Grabeskirche in Jerusalem) oder demjenigen mit dem Cowboyhut (eigentlich ein Kardinalshut) hat mich vor allem die Bedeutung der leergelassenen Spiegel im Deckengewölbe fasziniert.

Spoiler: der nächste Abschnitt könnte etwas philosophisch und deep werden. Wenn dich das triggert, spring doch zum übernächsten Absatz.

Die leeren Deckenspiegel
Bernhard hat zu jedem kunsthistorischen Symbol eine Geschichte.
Puristisch in weiss gehalten

Bernhard setzt an: «Die Spiegel fordern uns dazu auf, die leergelassenen Felder mit unseren eigenen Elementen zu füllen.» Etwas verloren kaue ich an meinem halbeingefrorenen Kugelschreiber und schaue auf das leere Notizbuch vor mir. Sweet Baby Jesus – nach dieser Führung werde ich alle Begriffe, Theorien und Fakten so was von hart googlen müssen.

Doch zum Glück führt Bernhard weiter aus: Religionen sind oft nach oben gerichtet. Wir Menschen streben hinauf zu einer spirituellen Kraft, zu Gott, Jesus, ABBA, nenne es, wie du möchtest. Das Spirituelle liegt aber bereits in uns. Indem wir uns ins Leben reingeben (also viel mehr transdeszendent denken), ermutigen wir uns, selbst schöpferisch zu werden, unsere Talente zu nutzen und unsere Individualität zu zelebrieren. Wir sollten viel mehr spüren als alles zerdenken zu wollen. Bernhard fasst es mit den Worten von Teilhard de Chardin zusammen: «Wir sind keine menschlichen Wesen auf einer spirituellen Reise, sondern spirituelle Wesen auf einer menschlichen Reise.»

Joa, da habe ich was zum Nachdenken für später.

Schöpfung im Raum

Auf den ersten Blick sehen die Stuckaturen und Blumen-Ornamente auf beiden Seiten des prächtigen Hochaltars identisch aus. Geschichts-Allrounder Bernhard klärt auf: «Man denkt, die gegenüberliegenden Elemente seien gleich gross und ein Abbild voneinander. Sie sind in Wahrheit aber alle individuell. Genau das macht sie so schön. Weil auch in der Natur nichts perfekt ist.»

Wir lassen Bernhards Worte sacken bevor er die innere Spiritualität noch in zwei weiteren baulichen Elementen der Kirche veranschaulicht. Steht man beispielsweise in der Kirchenpforte und blickt in die Kirche hinein, sieht man kein einziges Fenster. Man sieht nur einen hellen, lichtdurchfluteten Raum. Ein Hinweis des Baumeisters Franz Beer, dass das göttliche uns überall umgibt und in allem steckt, ohne dass wir es effektiv sehen können. Die Wandpfeiler wurden zudem so positioniert, dass der Barockbau nach vorne hin enger zu werden scheint. Eine optische Täuschung und die stille Botschaft der Zisterzienser, dass man im Leben stets nach vorne streben und sich voll und ganz reingeben sollte.

In der Jugendsprache würde man jetzt sagen: Das Morgenlicht ist ein „paid actor“.
So schön wie das hier reinfällt und die weissen Wände der Kirche küsst.

Von Kraftorten und Schotten

Wir wechseln die Kirchenbank gegen die Klappsitze eines der bedeutendsten Chorgestühle des Barocks. Entstanden in 6-jähriger (in Worten: sechsjähriger!) Schnitzarbeit zwischen 1701 und 1707 musste das barocke Kunstwerk aufgrund der Klosterauflösung eine wahrlich langatmige Odyssee auf sich nehmen. Nach einer Reise nach St. Gallen, Irland und Schottland findet das wertvolle Chorgestühl 1911 in einem Stück nach St. Urban zurück (hat sich sogar gereimt, hesch gmerkt?).

Und so sitzen wir zwischen den aufwendig geschnitzten Säulen und Hochreliefs und stellen uns vor, wie die Mönche sich hier früher sieben Mal täglich zum Gebet trafen und sich in der sogenannten Kontemplation übten. Keine Sorge, ich wusste auch nicht, was Kontemplation ist. Hier mein Service public an dich: Kontemplation und Meditation sind zwei Arten, sich selbst näher zu kommen. Während Meditation aber mehr auf den Geist ausgerichtet ist, beobachtet man bei der Kontemplation mit all seinen Sinnen. Ein Verweilen im gegenwärtigen Augenblick. Hört sich für mich nach emotionalem Achtsamkeitstraining an.

Die Säulen zeigen organische, mit Pflanzen beschmückte Figuren.
Dazwischen Reliefs aus dem Alten und Neuen Testament.

Wir versammeln uns wieder in der Gruppe und Bernhard macht uns auf die Kraftorte in der Kirche aufmerksam. Wie die sieben Chakren im menschlichen Körper, verteilen sich sieben Kraftorte entlang des Mittelganges bis zum Hochaltar. Der stärkste Kraftort befände sich unter der blauen Uhr. Mit einem Blick nach oben stellen wir fest, dass uns Bernhard genau dahin gelockt hat. Ich schliesse die Augen und spüre der Energie nach. Ist da tatsächlich ein leichtes Vibrieren in meiner Magengrube oder rebelliert mein Bauch wegen dem ausgelassenen Znüni? Ich tippe auf die Kombination beider Thesen.

Da ahnten wir noch nichts, dass wir auf einem Kraftort stehen.

Bernhards subtil witziger Charakter schleicht sich bei seinen Erzählungen immer wieder zwischen die historischen Fakten und philosophischen Monologe. Nicht selten entlockt er damit den Zuhörenden ein Schmunzeln oder einen lauten Lacher. Er möchte kein Frontal-Geschichtsunterricht halten, erzählt er mir auf dem Weg in die Bibliothek. Viel mehr will er die Leute zum Nachdenken anregen. Mit den Glaubenssätzen und Regeln der Kirche können die meisten eh nichts anfangen. Wie eine Zwiebel kann ich langsam Schicht für Schicht, Fragezeichen für Fragezeichen ablegen. Umso länger die Führung geht, umso mehr halten die Synapsen in meinem Kopf Händchen.

Von Superlative zu Superlative

In der wunderschönen Bibliothek erleuchtet die Morgensonne gerade die 12 geschnitzten Eichensäulen. Ursprünglich beherbergten die alten Regale gut 6‘000 Buchbände, teilweise aus der Gründungszeit des Klosters, bevor sie bei der Klosterauflösung in die Luzerner Kantonsbibliothek überführt wurden.

Da in der Bibliothek immer wieder feuchtfröhliche Apéros durchgeführt werden, stehen heute nicht die wertvollsten Bücher in den Regalen.

Ein paar Türen weiter treten wir in den grössten barocken Festsaal der Schweiz. Zu Füssen ein kunstvoller Parkettboden, über uns eine weisse Decke mit prächtigen Stuckaturen und Marmoreinlagen. Die hohen Fensternischen umarmen das hereinfallende Licht. Vor meinem geistigen Auge sehe ich mich in einem kitschigen Kleid aus Tüll über den Holzparkett sausen. Sissi wäre neidisch gewesen.

Wir beenden unsere Führung beim, wer hätte das gedacht, grössten barocken Treppenhaus der Schweiz. Das komplett weisse Treppenhaus vermittelt uns durch die spezielle Anordnung der Treppen und Treppenläufe, dass auch das Leben sich nie linear abspielt.

«Vergesst so schnell wie möglich alles was ihr gehört habt. Dann müsst ihr nämlich wiederkommen», verabschiedet sich Bernhard lachend von der Gruppe. Auf dem Weg zum Bahnhof frage ich ihn, woher sein enormes Wissen stammt. Er erzählt mir, dass er bereits als Kind eine Leidenschaft für Geschichte hatte und alles wie ein Schwamm aufsog. «Eigentlich bin ich gelernter Bierbrauer», ruft er mir zum Abschied zu.

Ich bleibe verblüfft zurück. Der heutige Tag steckt wirklich voller Überraschungen.


Weitere Informationen & Links:

Die öffentlichen Führungen finden von März bis Dezember immer am ersten Sonntag des Monats statt und sind für alle Interessierten kostenlos.


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Egal ob im Tanzstudio oder an der Bushaltestelle, Laila ist immer tanzend anzutreffen. Mit einem Lachen im Gesicht und einer Fotokamera in der Hand sucht die gebürtige Luzernerin überall nach Geschichten und Menschen die sie inspirieren. Oder einfach nach weiteren Orten um tanzen zu können. Mehr von Laila auf www.laila-schreibt.com

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