Im Herzen der Schweizer Alpen, im Kanton Uri, erheben sich zwei markante Gipfel, die das Herz jedes ambitionierten Kletterers höherschlagen lassen: der Trotzigplanggstock und der Wichelplanggstock. Diese beiden Berge sind Teil der Urner Alpen und bieten eine der spannendsten und griffigsten Gratklettereien der Region. Mit ihrer exponierten Lage und dem luftigen Grat, stellen sie eine schöne und lange Tagestour für ambitionierte Bergsportler dar. Eine abenteuerliche Klettertour mit der Urner Bergschule Exped Tribe steht auf dem Programm.
Die Tour beginnt üblicherweise auf der bestens bewirteten Sustlihütte, die auf 2257 m Höhe liegt. Für diejenigen, die auf ihr hauseigenes Bett für eine Nacht nicht verzichten wollen, beginnt der Aufstieg ca. 1 ½ Stunden früher mit Start auf der Strasse des Sustenpasses.
Wenn der Wecker um 4:00 Uhr klingelt…
Heute früh klingelt unser Wecker lange vor Sonnenaufgang. Im Kegel der Stirnlampen brechen wir vom Parkplatz aus auf, die Sustenpassstrasse ist leer, alle scheinen noch zu schlafen, keine Töfffahrer sind in Sicht. Ein kalter Wind bläst und lässt uns vor Kälte frösteln. Bei dem vorhergesagten guten Wetter wird sich das schnell ändern.
Schon beim Aufstieg zur Hütte bewundern wir die felsige Landschaft und Ausblicke auf die umliegende Bergwelt. Das stimmt uns voll und ganz auf das bevorstehende Abenteuer ein! Über den „Leiterliweg“ erklimmen wir drei senkrechte Treppen, die im Felsen verankert sind. In Kürze sind wir bei der Hütte, wo die ersten Seilschaften, im Licht der Stirnlampen, zu ihren Touren aufbrechen.
Wir ziehen zügig an der Hütte vorbei in Richtung Stössensattel, der auch als Normalroute zum Grassen führt. Auf der Höhe des Murmelsplanggstockes zweigen wir letztendlich ab und ziehen unsere Steigeisen an, um ein steiles Stück gefrorenen Firns zu überwinden. Das Eis knirscht bei jedem Schritt unter den scharfen Spitzen und lässt uns vermuten, dass die Nacht besonders kalt war. Über eine steile Flanke erreichen wir rasch die Scharte, an der sich der Grat markant im ersten Sonnenlicht präsentiert: luftig, zerklüftet, solide, aussichtsreich!
Gefühlskarussell zwischen kalten Fingern und grosser Vorfreude
Der Einstig erfolgt am Trotzigplanggstock. Voller Vorfreude schlüpfen wir in unsere Klettergurte und seilen uns an. Wir bilden zwei Seilschaften und unser Bergführer kontrolliert die Knotenpunkte. Ich darf in einer zweiten, autonomen Seilschaft mitklettern. Wir werden die Tour als zweite Seilschaft fotografisch festhalten. Diesen Grat kenne ich sehr gut, denn ich war letztes Jahr schon hier und habe die Tour als wundervoll empfunden. Die Finger sind noch kalt und die Motorik nicht sehr koordiniert, doch wir steigen ein und erklettern die ersten steilen Blöcke, die uns an Höhe gewinnen lassen. Der Fels ist wahnsinnig griffig und rau, es ist eine Freude, sich darauf zu bewegen. Die Kletterei verläuft meist exponiert und luftig, erfordert volle Konzentration und sicheres Steigen. Die Sicherung mit Bohrhaken der Route ist gut und kann mit zusätzlichen Schlingen noch erhöht werden. Unsere vordere Seilschaft kommt zügig voran, ab und zu hört man ein leises Lachen oder Jauchzen. Ich ahne, dass sie die Kletterei geniessen und nehme meine Kamera zur Hand, um den Moment zu verewigen. Die Sonne scheint inzwischen und lässt uns erwärmen. Wir gönnen uns auf einer Nische eine kleine Pause und geniessen die fantastische Aussicht in Richtung Wendenhorn und Sustenhorn. Ein Anblick für die Erinnerung!
Auf Bergtouren verläuft die Zeit wie im Flug
Je weiter wir vorwärtskommen, desto flüssiger werden unsere Bewegungen: einmal spreizen hier, dann noch klemmen dort, ein kurzer „Piaz Move“ für die Bewältigung einer knackigen Schlüsselstelle. Frühzeitig kommen wir bei der Abseilstelle an, die auf den Schluss des ersten Grates hinweist. Ein rötlicher Pfeil neben zwei Bohrhaken mit Ring deutet den Weg an. Dankeschön, das ist hier ziemlich selbsterklärend gewesen, wo es lang geht.😉 Wir evaluieren im Team, ob die Energien noch ausreichen, um die Kletterei fortzusetzen und entscheiden uns, den Wichelplanggstock auch noch zu begehen.
Der zweite Grat hat es in sich: der Wichelplanggstock
Eine kurze, steile Passage zum Abklettern gibt gleich zu Beginn den Ton an. Der Wichelplanggstock sollte leicht anspruchsvoller sein als der Trotzigplanggstock, sein Nachbar. Mit etwas Mühe klettern wir mit schweren Bergschuhen die Stelle ab, bevor es mit der spassigen Kletterei weitergeht. Der Fels wirkt hier rötlicher und griffiger als im Teil zuvor. Für eine Sekunde träume ich davon, in den Aiguilles de Midi unterwegs zu sein – in Chamonix, dem Mekka des Alpinismus schlechthin. Und doch sind wir in Uri! Die Routen sind weniger überlaufen und doch Weltklasse! Voller Vorfreude überklettern wir eine schwierige Passage. Ich denke nur kurz: „Hui, hätte ich heute meine Kletterfinken doch dabei!” Weiter geht es rauf und runter, immer schön exponiert, zum sogenannten “Titlis Schritt“, einer skurrile Felsformation, die einen Spreizschritt verlangt. Einzigartig in seiner Art und Weise. Beide Seilschaften kommen erneut gut durch und erreichen nach einem Abseilmanöver die letzte Seillänge des Grates. Inzwischen ist es 12 Uhr, mein Bauch knurrt schon und verlangt nach etwas Süssem. Ein Riegel soll das Bedürfnis stillen, denn jetzt haben wir keine Zeit für Picknicks in der Wand, Gipfelattacke!
Gipfelfreude und Abstieg
Unser Bergführer entscheidet sich dafür, diese Seillänge vorzusteigen. Sie soll anscheinend etwas brüchig sein und steiler als die vorherigen. Wir willigen ein und schauen zu, wie er wie ein „Wiesel“, agil und leger die Wand hochklimmt. Ein wahres Spektakel! Auf dem Gipfel angekommen, ruft der Bergführer uns „Stand!“ zu, während sich unsere Kunden für die letzte grosse Seillänge vorbereiten. Am Gipfel angekommen haben wir zu viert geradeso Platz und geniessen „baumelnd“ die Aussicht zum „Titlis Tower“, dem Sustenpass und weiter zum langen und zerklüfteten Grat, den wir nun in seiner gesamten Länge (650 m) beklettert haben. Nach dem Gipfelfoto ist die Tour noch lange nicht beendet, denn jetzt ist volle Konzentration zum Abseilen, Absteigen und Abklettern angesagt. Es folgen zwei längere Abseilstellen und eine exponierte Wanderung, die uns bis zu einem Felsvorsprung führt. Ab hier muss noch einmal abgeseilt werden, direkt zur steilen Randkluft, die meterweise in die Dunkelheit fällt. Dort, wo der Altschnee sich auf Grund der Wärme vom Felsen löst, entstehen tiefe, gefährliche Spalten. „Da möchte ich nicht hineinfallen“, denke ich mir, während ich als Letzter die Abseilstelle überwinde. Wir setzen unsere Wanderung zur Sustlihütte ohne grössere Hindernisse fort. Dort warten schon eine leckere Ovomaltine und ein Stück Streuselkuchen auf uns.
Eine der schönsten im Kanton Uri
Es ist schwer zu definieren, welches die schönste Gratklettertour im Kanton Uri sein soll. Es gibt nämlich so viel Auswahl an Touren und Gipfeln, dass die Meinungen auseinandergehen. Ich finde aber, dass diese Tour besonders lohnenswert ist, und biete sie immer wieder gerne ambitionierten und trittsicheren Bergsportlern mit Bergführer an. Die Kletterei und das Ambiente sind glorreich, die Tour abwechslungsreich und nie banal, die Sustlihütte bestens bewirtet und immer gut besucht. Eine wundervolle Tagestour in bestem Ambiente im Urner Gneiss-Eldorado! Denn warum jedes Jahr im Sommer weit wegfahren, wenn wir auch hier erstklassige Touren in bestem Fels haben? Das Gute liegt so nah.
Gast-Blogger:
Davide Guzzardi ist Gründer und Geschäftsführer von Exped Tribe, einer Bergschule und Abenteuerreise-Anbieter. Die Firma wurde 2021 im Kanton Uri gegründet. Davide hat Exped Tribe von einer Gruppe gleichgesinnter Freunde zu einem Unternehmen weiterentwickelt, das einzigartige Bergtouren und Expeditionen in abgelegene und schwer zugängliche Orte anbietet. Seine Leidenschaft gilt dem Bergsport, den arktischen Landschaften und Pizza (wie wohl, ohne Zweifel, bei jedem Italiener).
Fotos: ©Marco Barbieri, Exped Tribe GmbH