
Eine jahrhundertealte Tradition, praktiziert in den hügeligen Napfausläufern des Willisauer Mittellandes: Die Rede ist nicht von Holzschnitzerei oder Töpfern, sondern von Seide. Hier, oberhalb von Menznau, liegt die grösste Seidenraupen-Farm der Schweiz. Ich habe mit Betriebsleiter Daniel Spengeler gesprochen und ihn über die gefrässigen Krabbeltiere ausgefragt.
Meine gute Freundin Célina bedruckt in ihrer Freizeit wunderschöne Seidenfoulards. Woher diese Seide kommt, habe ich mir allerdings noch nie überlegt. Wenn ich ganz ehrlich bin, hatte ich wohl das Gefühl, das wächst irgendwie so flauschig aus Bäumen heraus, wie das Baumwolle tut und wird dann in einem zweiten Schritt irgendwie geglättet. Oder so.

Eine Plantage für einen Raupenhunger
Heute werde ich eines Besseren belehrt. Ich besuche nämlich die Seidenfarm Fluck in Menznau, die Teilzeitbauer Daniel Spengeler seit 2012 gemeinsam mit seiner Frau Mirjam und seinen Eltern Sepp und Brigitte im Nebenerwerb führt. Weil Signorina Bosco natürlich kein Auto besitzt und ihre Blogreisen stets per ÖV antritt, muss sie auch dieses Mal am Bahnhof Menznau abgeholt werden. Doch bevor es zu den Räupchen geht, möchte mir Daniel die Maulbeer-Plantage beim Betrieb Hiltikon zeigen.

Jetzt fällt auch bei mir das berühmte «s’zwänzgi». Die säuberlich in Reih und Glied angeordneten Maulbeerbäume dienen als Futtergrundlage für die anspruchsvollen Seidenraupen. Anspruchsvoll – weil sich die mehligweissen Krabbelgenossen nur von den zarten Blättern des weissen Maulbeerbaums ernähren. «Rund eine Tonne Blätter brauchen wir pro Monat, um die rund 35’000 hungrigen Raupen durchzufüttern» meint Daniel, der zum Wohl der Tierchen auch kein Spritzmittel für die Bäume verwendet.


Auf einer Fläche von einem halben Fussballfeld stehen hier etwa 700 Maulbeerbäume – alle knapp 90cm hoch, damit die Blätter schnell und effektiv gepflückt werden können. Diese Aufgabe übernimmt heute vor allem Daniels Vater Sepp. Gepflückt wird täglich, denn die Räupchen haben einen Bärenhunger. Oder doch eher einen Raupenhunger? In einem Monat nehmen die Larven das 10’000-fache ihres Körpergewichts zu. Würde mensch das mit einem 3,5 kg schweren Neugeborenen vergleichen, so wäre besagtes Baby nach einem Monat 35 Tonnen schwer. Die spinnen, die Raupen! Sogar im doppelten Sinne….

Von Reben, Rehen und Raupen
Auf dem Hof in Hiltikon sind neben den hübschen Maulbeerbäumen auch noch zwölf Muttersäue und eine kleine Alpakaherde zu Hause – «als natürliche Rasenpfleger fürs steilere Gelände», lacht Daniel, während wir zurück zum Auto spazieren.
Und was, wenn Petrus mal wieder einen Streich spielt und die Plantage verhagelt oder mit Frost belegt? «Dann ist Not am Mann», meint der gebürtige Menznauer und führt aus, dass in der Vergangenheit auch schon in einer kurzfristigen Hauruck-Aktion Maulbeerblätter in der Stadt Luzern oder durch weitere Seidenraupenproduzierende besorgt werden mussten. Neben Petrus halten auch Mäuse, unvorhersehbare Krankheiten oder der neueste Familienzuwachs von Daniel und Mirjam die Familie auf Trab. Es läuft (oder kriecht) also immer etwas bei Spengelers.

Weiter geht’s zum eigentlichen Höhepunkt des Tages: der Seidenraupenaufzucht auf dem Hof Fluck. «Mein Vater hat 2005 den Melkbetrieb aufgegeben und auf Mutterkühe umgestellt. Anschliessend kam die Frage auf: Was könnte man sonst noch machen? Die erste Überlegung waren Weinreben. Doch dafür sind wir hier zu hoch gelegen und nicht in der Nähe eines Gewässers. Dann haben wir uns überlegt, Hirsche anzuschaffen, doch das ging wegen der Nähe zum Wald nicht», erläutert mir Daniel, während wir auf den Hof einbiegen.

«2009 hat meine Mutter im Radio von diesen Seidenraupen erfahren und davon, dass ein Schweizer Verein gegründet worden war. Mein Vater und ich waren anfangs etwas skeptisch, sind dann aber trotzdem vorbeigegangen, um uns das Ganze anzusehen. Nicht lange danach haben wir in die ersten Maulbeerbäume investiert. «Ein Risiko», meint Daniel. Denn damals wusste in der Schweiz noch niemand so richtig, wie die Aufzucht funktioniert. «Das war definitiv ein Learning by doing», schmunzelt der 38-Jährige etwas stolz.


Weit weg und doch so nah
Während Daniel mich über den Hof führt, gibt er mir weitere Einblicke in die Anfänge der Seidenraupenaufzucht. Angefangen habe alles in einem Kinderzimmer auf dem Betrieb Hiltikon. Da der Platz schnell nicht mehr ausreichte, expandierte die Familie zuerst in den Keller und anschliessend in einen Container. In dieser Anfangszeit kümmerte sich in erster Linie Daniels Mutter Brigitte um die Raupen. Schliesslich baute Daniel auf dem Hof Fluck einen Aufzuchtsraum sowie einen Mehrzweckraum, den er heute für Gruppen, Vereine und Teamevents vermietet. In diesem Raum hält ebenfalls meistens Brigitte die rund zweistündigen Führungen. Dabei erklärt sie dem interessierten Publikum die heimische Seidenraupenaufzucht.


Vor besagtem Aufzuchtsraum stehen wir nun. Ich – traurig vor der Glasscheibe, weil ich den Raum nicht betreten darf. Dahinter – rund 20’000 Raupen, die sich gierig auf die frische Ladung Maulbeerblätter über ihren Köpfen stürzen. Die strenge Einhaltung bestimmter Raumtemperaturen und Luftfeuchtigkeit ist unabdingbar für den perfekten BMI der anspruchsvollen 16-Beiner. So bleibt mir nichts anderes übrig, als der frischfröhlichen Völlerei aus der Ferne zuzusehen.

Nun gibt es auch für mich inhaltliches Futter in Form einer 60-Slide-PowerPoint-Präsentation, die mir Daniel im Eventsaal oberhalb des Seidenraupenraumes zum Besten gibt. Schritt für Schritt klicken wir uns durch die Präsentation und durch das Leben einer Menznauer Seidenraupe. Und das beginnt so: Die Eier werden per Briefpost aus Italien nach Bern geschickt, wo Vereinspräsident Ueli Ramseier (Swiss Silk) sie an die verschiedenen Farmen in der Schweiz weiterversendet. Am ersten Tag schlüpfen rund ca. 10% bis 30% der Eier im Brutschrank, am zweiten Tag die restlichen ca. 80% bis 100%. Die erste Mahlzeit folgt. Die Blätter werden so klein geschnitten, dass die frisch geschlüpften Raupen-Babys beim Reinhauen keine unnötige Energie verbrauchen.


Räupchen auf Wohnungssuche
Nach einem Monat des Häutens und Mampfens bringen die Olympiafresser gute fünf Gramm auf die Waage, sind auf eine Länge von zehn Zentimetern angewachsen und kriechen fingerdick durch die Netze. «Immer wieder beeindruckend was diese kleinen Tierchen in einem Monat alles leisten», drückt Daniel seine Faszination für seinen Job aus.


Jetzt geht’s ans Eingemachte oder genauer gesagt ans Eingesponnene. Die Raupen werden an die Basis eines Kastens gebracht, wo sie in die Höhe kriechen und sich in ihre Einzimmer-New-York-Penthouse-Wohnung der Wahl einquartieren. Diese «Spinnhilfe» wird so lange gedreht, bis alle einen Ort zum Verpuppen gefunden haben.



«Einmal zu Hause angekommen, beginnen die Raupen, sich für die nächsten drei Tage in der Bewegung einer liegenden Acht mit einem dünnen Faden einzuspinnen», erklärt mir Daniel (und ich habe nun bauchtanzende Räupchen vor mir). Der Kokon, den die Raupe zur Verpuppung spinnt, besteht aus einem nutzbaren Faden – der Seide. Mit der Verpuppung ist für Daniel auch der Moment gekommen, wo er das erste Mal durchatmen kann, denn theoretisch könnte bis dahin noch eine raupenwegraffende Krankheit ausbrechen.



Ganze drei Kilometer von diesem proteinreichen Faden kann mensch nun von einem zarten 2 g leichten Seidenkokon «abhaspeln» (in Laiensprache «abspulen»). Im Kokon findet eine letzte Häutung statt, bei der die Raupe zur Puppe wird. Jetzt startet die aus dem Biologieunterricht bekannte Metamorphose und die Raupe verwandelt sich zur Puppe. Bevor der Prozess jedoch einen Schritt weitergeht, wird die Puppe getrocknet, wodurch die Metamorphose unterbrochen wird. Die proteinreichen Puppen werden anschliessend als Hamsterfutter verwendet. So finden sämtliche Teile der Raupe eine Verwendung. Meine Mundwinkel verschieben sich leicht nach unten – irgendwie war mir nicht bewusst, dass Seide SO entsteht. «Die Schmetterlinge könnten weder fliegen noch fressen, deshalb trocknen wir sie lieber in der Metamorphose» fasst Daniel zusammen.


Glänzende Aussichten
Läuft alles nach Plan und nach Daniels Gusto, kommen pro Jahr gut rund 60’000 Raupenkokons und damit 12 kg Rohseide zusammen. Zum Ende der Präsentation nimmt mich natürlich noch Wunder, was mit dieser Rohseide passiert, nachdem sie in der Manufaktur in Bollingen abgehaspelt und zu einem Seidenfaden aufgespult wurde. «Dieser Seidenfaden ist sehr vielfältig einsetzbar», beginnt Daniel seine Produktplatzierungssendung und lädt mich zu sich nach vorne an den Tisch ein, wo nebst verschiedenen Seidenprodukten auch lokaler Honig oder Tee aus Maulbeerblättern erworben werden kann.





Aus dem verflüssigten Seidenfaden lassen sich beispielsweise Zahnimplantate herstellen. Der im Faden enthaltene Leim eignet sich aber auch hervorragend für eine nährende Gesichtscreme. Daneben gibt es natürlich die gesamte Palette an Stoffprodukten: Von Krawatten über Foulards bis hin zu Portemonnaies wird die Seide national weiterverarbeitet. Besonders stolz ist Daniel auf den Seidenglanz der Schweizer Produkte: «Durch den Smog haben die chinesischen Produkte ihren natürlichen Glanz verloren», schliesst der Menznauer Bauer seine Präsentation.
Mit der Raupenproduktion läuft’s also im Hause Spengeler. Mensch könnte also fast sagen – es läuft seidenfein.
Weitere Informationen & Links
- Die Seidenfarm Fluck
- Seidenprodukte aus Schweizer Seide
- Gruppenerlebnisse in der Region Willisau
- Willisau erleben