Den Umgang mit Lawinen verändern – ein Gespräch

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Nachdem eine Gruppe professioneller Freerider in eine Lawine geriet, beschloss sie, den Umgang mit Lawinen grundlegend zu ändern und ihre Geschichte sowohl ihrer Community auf Instagram als auch uns zu erzählen. Lies in diesem Gespräch, was ihn dazu bewegte, den Umgang mit Lawinen zu verändern.

Die Ferienregion Andermatt – insbesondere der Gemsstock – ist seit Jahren als Freeride-Mekka bekannt. Steile Abfahrten durch knietiefen Pulverschnee, atemberaubende Aussichten auf die umliegenden Gipfel und das gesellige Zusammensein mit der Ski-Truppe. Beim Freeriden liegt der Fokus oft auf den Dingen, die gut liefen, doch dass dabei auch ganz vieles schief laufen kann, beweist die eindrückliche Geschichte von Forrest Schorderet. Bei einem Treffen erklärte uns Forrest Schorderet, wie es zu diesem Umdenken kam. 

Als Athleten mit jahrelanger Erfahrung bei den Freeride World Qualifiers und Junior Tours haben die Brüder Forrest und Lake Schorderet Lawinentrainings mit der Weltspitze absolviert. Nach einem schneearmen Saisonbeginn waren sie an einem sonnigen Tag im März 2021 von ihrer Begeisterung über den Pulverschnee einfach überwältigt. Lake geriet infolge einer Reihe unglücklicher Entscheidungen und Pech in eine Lawine und wurde vollständig verschüttet. In einem eindrücklichen Filmmitschnitt dieser Nervenprobe ortet Forrest seinen kleinen Bruder in nur zwei Minuten. Drei Minuten später wird Lake aus dem Schnee befreit und sein Leben gerettet. Der Bericht ist nicht nur deshalb so beeindruckend, weil die beiden während der Rettung Kameras trugen, sondern auch, weil sie sich dazu entschieden haben, ihre Geschichte öffentlich zu machen. 

«Ich habe mich etwa zehn Sekunden lang überfordert gefühlt, wusste aber, dass ich positiv und konzentriert bleiben musste.»

Das Video vom Vorfall zeigt Verhalten in einer Lawinensituation wie aus dem Lehrbuch. Wenn du auf die Rettung zurückblickst, gibt es etwas, dass du deinem Empfinden nach besonders gut gemacht hast?  

Forrest: Ich bin sehr stolz darauf, dass wir es geschafft haben, uns so schnell zu organisieren und ruhig zu bleiben. Wir haben die Aufgaben verteilt, damit alle wissen, wofür sie verantwortlich sind: den Notruf für die Helikopterrettung absetzen, schaufeln usw. Und dank Trainings und Übungen hat das auch funktioniert. Das Problem ist: Du weisst vorab nicht, wie du dich in einer solchen Situation verhältst, insbesondere wenn es um deinen Bruder geht. Ich habe mich etwa zehn Sekunden lang überfordert gefühlt, wusste aber, dass ich positiv und konzentriert bleiben musste. 

Ich kann mir das nur vorstellen. Nach aussen hast du dir überhaupt nichts anmerken lassen. Ich vermute aber, dass es genau deshalb so wichtig ist, viel zu üben – damit man das Wissen im Unterbewusstsein abgespeichert hat und sich die Muskeln von selbst erinnern, wenn das Adrenalin durch den Körper rauscht.  

Forrest: Ja, genau. 

Die GoPro-Videos zu posten und das Geschehene online zu schildern, ist euch sicher nicht leichtgefallen. Warum wolltet ihr damit an die Öffentlichkeit gehen?  

Forrest: Es gab mehrere Gründe, weshalb wir unsere Geschichte erzählen und die Clips des Vorfalls hochladen wollten. An diesem Tag haben wir Fehler gemacht und falsche Entscheidungen getroffen. Wir möchten es zur Normalität machen, über diese Dinge zu sprechen, damit anderen nicht das Gleiche passiert. 

Zum einen waren wir zu aufgeregt und zu optimistisch. Diese Gefühlslage dürfen wir Freerider uns einfach nicht erlauben, weil Dinge wie an jenem Tag leider passieren können. Auch vor diesem Hangabschnitt haben wir ein paar Fehlentscheidungen getroffen. Es geht einfach nicht, unter solchen Bedingungen gemeinsam in einen Hang zu fahren.  

Ja, die Bergwelt ist so wunderschön und inspirierend … man muss ihr aber auch mit Respekt begegnen. Freeriden ist immer noch ein gefährlicher Sport. 

Wir wollten den Leuten ausserdem zeigen, dass sie die richtige Ausrüstung brauchen, wenn sie abseits der Piste fahren – egal, ob beim Freeriden oder auf einer Skitour. Sie müssen natürlich auch wissen, wie man die Ausrüstung verwendet, und sich mit Lawinenkunde befassen. 

Oft ergeben sich Unfälle aus mehreren kleinen Fehlentscheidungen oder Versehen und nicht aus einem grossen Fehler. Möchtest du den Menschen in diesem Zusammenhang etwas aus deiner Erfahrung mitgeben? 

Forrest: Versucht, euch nicht so mitreissen zu lassen, dass ihr nicht mehr klar denken könnt. An jedem Tag im Gelände müsst ihr mit euren Leuten zusammenarbeiten und entscheiden, ob es wirklich sicher ist. Fahrt mit einer Gruppe, der ihr vertraut, die sich auskennt und mit der ihr offen reden könnt. Wenn ihr euch nicht sicher fühlt, müsst ihr euch dafür nicht schämen. Stattdessen solltet ihr immer alles ansprechen können. Es gibt immer einen Plan B. Man kann die fragliche Stelle umfahren und vielleicht zwei Wochen später wiederkommen, wenn die Bedingungen besser sind. Wenn ihr Zweifel habt, lohnt sich das Risiko nicht. 

Ich fahre selbst Ski und musste lernen, dass es viele Unterschiede zwischen Nordamerika und Europa in Bezug auf die Freeridekultur und die Lawinensicherheit gibt. Was denkst du darüber?  

Forrest: Meine Freundin Freya ist Kanadierin. Zum Glück hat sie mich über die unterschiedlichen Sichtweisen aufgeklärt. Ich denke, dass das Bewusstsein über Lawinen in Nordamerika geschärfter ist, und dass sie das Verhalten in Lawinensituationen dort häufiger trainieren als wir hier. Darum verstehe ich es aber auch nicht, wieso die Menschen dort beim Freeriden in oder in der Nähe eines Skigebiets nicht immer Schaufel, Sonde und LVS dabeihaben. Auch wenn die Bergwacht die Hänge morgens kontrolliert, können sich die Verhältnisse tagsüber verändern. Mir kommt es seltsam vor, Videos von Freeridern ohne Rucksack zu sehen. Alles in allem denke ich aber, dass die Community dort noch mehr auf Lawinensicherheit achtet. In Europa könnte man sich daran ein Beispiel nehmen, vor allem für junge Skifahrerinnen und Skifahrer. 

Es ist interessant, was du über die Bilder gesagt hast, die wir in Filmen und online sehen. Vielen ist wahrscheinlich nicht bewusst, dass das Gelände neben den Pisten in Nordamerika von den Skigebieten kontrolliert wird. Aus diesem Grund fahren die Menschen dort – wie immer man dazu auch stehen mag – oft ohne Ausrüstung. Gibt es etwas, dass du in Zukunft an deinen Sicherheitspraktiken ändern möchtest? 

Forrest: Mein Bruder und ich wollen noch mehr über Schneedecken lernen. Dafür werden wir mit Freunden, die Bergführer sind und ein Spezialtraining absolviert haben, zusammenarbeiten. Auf der einen Seite wegen des Unfalls, aber auch, weil wir es einfach wichtig finden, noch besser zu verstehen, wie der Schneedeckenaufbau funktioniert. 

Das sind super Ansätze und sie stossen eine noch umfangreichere Debatte in unserer Gemeinschaft an. Welche Entwicklung würdest du nach deiner Erfahrung gerne in der Freeride-Community sehen? 

Forrest: Wir müssen unbedingt über Schuldzuweisungen und das Kritisieren von Menschen, die Fehler begangen haben, sprechen. Ich finde, dass wir dankbar sein sollten, dass uns diese Personen ihre Geschichte erzählen, weil wir daraus lernen und uns selbst reflektieren können. Als ich das besagte Video auf Instagram geteilt habe, haben mir zwei Profi-Freerider geschrieben, dass sie meinen Post sehr gut fänden. Sie meinten auch, dass sie schon so ähnliche Unfälle gehabt, darüber aber nie in den sozialen Medien oder sonst öffentlich gesprochen hätten. Sie haben mir zwar nicht konkret gesagt, warum, ich bin mir aber sicher, dass sie sich in der heutigen Kultur der Schuldzuweisungen nicht getraut haben, ihrer Community gegenüber offen zu sein. 

Wir brauchen Transparenz und sollten solche Geschichten weitererzählen, insbesondere der jungen Generation, die sich jeden neuen Freeridefilm ansieht. In diesen Filmen werden verrückte Szenen gezeigt und ja, manchmal geht auch eine Lawine ab. Am Ende sieht man aber immer, wie die Skifahrerin oder der Skifahrer unten ankommt, nichts passiert ist und alle fröhlich sind. Ich denke, das ist etwas illusorisch. Wir müssen zeigen, dass Lawinen gefährlich sind und dass sie immer und bei jedem abgehen können, egal wie erfahren man ist. Wir brauchen mehr Transparenz, vor allem für die junge Generation.

«Wir möchten es zur Normalität machen, über diese Dinge zu sprechen, damit anderen nicht das Gleiche passiert.»

Autor: Alex Phillips, Mammut


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Menschen aus der Region Luzern-Vierwaldstättersee. Sie berichten über ihre persönlichen Erlebnisse, plaudern aus dem Nähkästchen und verraten unbekannte Schätze aus der Region. Ob Malerin, Grafiker oder Bauarbeiter. Sie alle verbindet die Begeisterung für ihre Region.

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