20 Minuten spannende Langeweile

Kategorien Empfehlungen, Museum / Ausstellung, Uri

2016 wurde der Gotthardbasistunnel dem Verkehr übergeben. Die an den Baustellen durchgeführten Besichtigungen hat auf Frühling 2017 Uri Tourismus übernommen. Bei der über zweistündigen Führung «Gotthard Tunnel-Erlebnis» werden Präsentationen, Modelle, Ausstellungen, Filme und das Tunnelfenster den Gästen gezeigt. Als einer von sechs Guides darf ich den Gästen das Jahrhundertbauwerk zeigen.

Als Pfau im Bahnhof

Ein Dutzend Personen sind heute für die morgendliche Führung «Gotthard Tunnel-Erlebnis» angemeldet. Auf der Teilnehmerliste sind es einfach Namen, alles Herren. Zehn Minuten vor der geplanten Zeit stolzierte ich mit der warnorangen Jacke durch den Bahnhof Erstfeld und halte Ausschau nach dem Dutzend. Keine Ahnung welchen Alters, keine Ahnung welcher Herkunft die Herren sind. Der Interregio aus Luzern fährt pünktlich auf Gleis 2 ein. Also platziere ich mich gut sichtbar bei der Treppe zum Mittelperron. Jeder Pfau wäre eifersüchtig geworden.

Tatsächlich, die Herren kommen gleich auf mich zu. Begrüssung, Vorstellung, erste Informationen und ab geht es mit dem Kleinbus nach Amsteg. Die Herren kennen sich. Der Geräuschpegel im Bus ist am oberen Limit. Noch bevor wir in Amsteg durch den Zugangsstollen in den Tunnel gehen, scheine ich die Gruppe zu kennen. In einer Besuchergruppe hat es immer etwa die gleichen Leute. Den engagierten «Frögli», der einen natürlich Gwunder hat, den «Ruhigen», bei dem man immer das Gefühl hat, er interessiere sich nicht, aber sich am Schluss immer als der Freudigste erweist und natürlich den «Beni», der alles kommentiert und mich immer an einen Sportreporter des Schweizer Fernsehen erinnert. Die Gruppe ist mir sympathisch, weil sie den «Besserwisser» zu Hause gelassen haben.

Zugang zum Gotthardbasistunnel und dem Gotthard Tunnel-Erlebnis.

Noch im Fahrplan

In etwas mehr als einer halben Stunde ist ein Intercity-Neigezug ICN, der eigentlich mit 200 km/h beim Tunnelfenster vorbeifahren sollte, auf dem Programm. Also erläutere ich mit einer Präsentation den Bau des Tunnels und zeige anhand eines Modelles die Funktion der Tunnelbohrmaschine. Perfekt, es beginnt für eine halbe Minute im Zugangsstollen zu pfeifen. Das ist immer das Zeichen, das der Zug nun durch die Multifunktionsstelle in Faido oder Sedrun fährt. Also ab ins Tunnelfenster.

Das Tunnelfenster ist eigentlich ein kleiner Raum wie ein Wintergarten, der in die Tunnelröhre ragt, Platz für einige Leute bietet und in dem man die heranfahrenden Züge auf einige Kilometer Entfernung sehen kann.

Der Zugang vom Baustollen zum Tunnelfenster und dahinter der Gotthardbasistunnel

Wenn die Leute im dunklen Tunnel stehen, habe ich immer ein paar Informationshappen und Geschichten auf Lager, mit denen ich die Zeit bis der Zug sichtbar wird, überbrücken kann. Also beginne ich mit der Geschichte der Kieszüge, die so viel Staub in den Tunnel gebracht haben, dass sie heute über die alte Bergstrecke fahren müssen. Kurzer Kontrollblick in den Tunnel – es ist noch kein Zug in Sicht – also der nächste Infohappen. Ich erzähle den Leuten einige Geschichten aus der Sicht des Lokführers. Wie es eben im Führerstand zugeht, wenn der Lokführer mit einem ICN und zweihundert Sachen durch den Tunnel rast oder mit einem Lokzug und vier Lokomotiven in 50 Minuten durch die Dunkelheit fährt.

Immer noch kein Licht im Tunnel, immer noch kein Zug der kommt, also nächste Geschichte. Jetzt erläutere ich den Herren die Vermessung und die millimetergenauen Durchschläge beim Bau des 57 Kilometer langen Tunnels. Die Herren sind beeindruckt, ich weniger. Der Zug müsste schon lange da sein. Ich rufe mit meinem speziellen GSM-Rail Telefon die Betriebsleitzentrale in Pollegio an.

Das gespannte und vermeintlich langweilige Warten auf den Zug im Tunnelfenster.

Eine Störung an der Zugsicherung

Sie hatten eine Störung der Zugsicherung, aber es soll demnächst weitergehen. «Toll, prima» denke ich. Ich informiere die Leute und staune. Alle schauen immer noch gebahnt nach Süden Richtung Sedrun, Richtung Dunkelheit. Einzig der «Frögli» kommt aus dem Tunnelfenster und fragt mich noch was über die Vermessung. Ich beginne ihm die Zusammenhänge der Vermessung, der Staumauern und geologischen Verformungen der Alpen im Bereich der Tunnelachse zu erläutern. Die anderen Herren bleiben aber alle im Tunnelfenster und blicken wie Kleinkinder, die das Christkind erwarten in die Dunkelheit Richtung Sedrun. Die Stimmung im Tunnelfenster scheint aber gut zu sein. «Beni» erläutert das dunkle Nichts.

Ich erläutere draussen dem interessierten Herrn meine Informationshappen etwas lauter in der Hoffnung, dass auch die anderen die langweilige Dunkelheit verlassen und meinen Informationen horchen. Nichts; die bleiben drinnen und haben ihre eigene «Party». Alle hängen an der Glasscheibe, starren in die Dunkelheit und unterhalten sich prächtig. Auch «Frögli» hat nun genug Informationen aufgesogen, begibt sich ins Fenster und starrt in die Dunkelheit. Langsam komme ich mir etwas verlassen vor. Die Herren starren in die Dunkelheit, haben ihre Geschichten und ich warte draussen auf den Zug.

Endlich: Licht !

Dann, das Pfeifen. Der Zug muss in Sedrun sein. Ich erläutere nochmals die aerodynamischen und schalltechnischen Zusammenhänge des Pfeifens und dass der Zug nun naht. Und plötzlich sehen alle das ganz kleine Licht näherkommen. Der Geräuschpegel wird grösser und alle sind zu «Benis» geworden. Das kleine Licht wird schnell grösser und kaum da, donnert der ICN an uns vorbei.

Ich entschuldige mich bei den Herren für die Panne bei der Zugsicherung und die 20-minütige Verspätung des Zuges. Keine Reaktion darauf, keine Reklamationen. Alle sind begeistert und fanden das ein tolle, spannende Sache und bedankten sich bei mir. Ich bin sprachlos. Das waren nun halt 20 Minuten spannende Dunkelheit.


Infos und Tipps


Gast-Bloggerin: Roli Seehaus fühlt sich mit Schraubenzieher in den schmutzigen Händen wohl. In seiner Freizeit ist der Bauleiter gerne im Lokomotivdepot Erstfeld von SBB Historic anzutreffen oder mit dem Fotoapparat beim Wandern im Urnerland.

Menschen aus der Region Luzern-Vierwaldstättersee. Sie berichten über ihre persönlichen Erlebnisse, plaudern aus dem Nähkästchen und verraten unbekannte Schätze aus der Region. Ob Malerin, Grafiker oder Bauarbeiter. Sie alle verbindet die Begeisterung für ihre Region.

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