Rollstuhl-WG gewährt einen intimen Einblick

Kategorien Menschen, Museum / Ausstellung, Sempachersee

Erfrischend kreativ ist das neue Besuchszentrum «ParaForum» der Schweizer Paraplegiker Stiftung SPS in Nottwil aufgebaut: als begehbare und interaktiv erlebbare WG von vier unterschiedlichen Menschen mit Para- und Tetraplegie. Die Besuchenden erhalten einen persönlichen Einblick in das Leben der Bewohnenden und deren Geschichten. Mit dem ParaForum will man sensibilisieren – und das klappt bei mir auch. Denn besonders ein Bereich der Ausstellung hat Eindrücke hinterlassen, die noch über die nächsten Tage nachhallen.

Der Lift öffnet sich und ich stehe im Eingangsbereich der WG. Über eine grosse Videoprojektion begrüssen mich Sarah, Stefan, Christine und Matteo in ihrer WG. Vier aufgeweckte Gesichter schauen mich an, erzählen kurz etwas über sich und rufen mich dazu auf, mich im Detail in Ihrer Wohnung umzusehen.

©ParaForum Nottwil

Die Eingangspforte öffnet sich und ich stehe in der Wohnung der vier fiktiven Charakteren. Sie ist ein Traum: Reizvoller Loft-Charakter, 400 Quadratmeter riesig und durchflutet vom Sonnenlicht, das an diesem warmen September-Freitag durch die breite Glasfront hineinscheint. Es sieht aus, als ob hier tatsächlich Leute wohnen würden: Auf dem Esstisch steht eine Weinflasche, daneben ein halb volles Glas mit einem Strohhalm drin. Um den Tisch herum Stühle und Rollstühle. Dahinter ein grosses Whiteboard mit der Wochenplanung der vier Bewohnenden. Auf der Küchenablage verteilt liegt Geschirr, Backutensilien, Pfannen, leere Flaschen. Angrenzend an den gemeinsamen Wohn- und Essbereich finde ich die einzelnen Zimmer. Aus dem Bad höre ich das Geräusch einer laufenden Dusche und das Summen von jemandem.

Blick in den Wohn- und Essbereich der 400 Quadratmeter grossen Wohngemeinschaft.
Esstisch mit Touchscreens, dahinter die akribische Wochenplanung der vier Bewohnenden.

Die ParaForum-WG im Überblick

1. Das Zimmer von Stefan

41-jährig, Tetraplegiker, querschnittgelähmt bis Schulterhöhe, Rollstuhlfahrer mit Einschränkung der Arme und Hände, nach einem Verkehrsunfall mit dem Velo. Hauptthemen: berufliche Karriere als Tetraplegiker, Überlastung und ihre Folgen, Schmerzen und Dekubitus, Reiseplanung.

Stefans Zimmer lässt unschwer erkennen, dass er sich oft mit dem Thema Reisen und Reiseplanung auseinandersetzt.

2. Das Zimmer von Sarah

32-jährig, Paraplegikerin, querschnittgelähmt bis Bauchhöhe, Rollstuhlfahrerin nach einem Sturz über einen Baumstrunk beim Wandern. Hauptthemen: Unfall und Rettung, Selbstwertgefühl, Schwangerschaft und Mutter sein als Rollstuhlfahrerin.

Der Arbeitsbereich in Sarahs Zimmer. Kleine Details lassen erahnen, dass ihr die Themen Beziehung und Familie wichtig sind.

3. Das Zimmer von Matteo

17-jährig, Paraplegiker, querschnittgelähmt bis Brusthöhe, Rollstuhlfahrer nach einem Hochgeschwindigkeitssportunfall beim Downhill-Biken. Hauptthemen: berufliche Ausbildung, Freizeit und Action, Loslösung vom Elternhaus und erste Liebe.

Viel Musik, Elektronik und sogar einen 3-D-Drucker: in Matteos Zimmer dreht sich die Ausstellung unter anderem auch um Berufswahl und Freizeitgestaltung.

4. Das Zimmer von Christine

68-jährig, Tetraplegikerin, querschnittgelähmt bis Halshöhe, Elektro-Rollstuhlfahrerin mit starker Einschränkung von Armen und Händen, nach einer Krankheit mit Einblutung ins Rückenmark. Hauptthemen: von der grossen Unabhängigkeit in die vollständige Abhängigkeit, Sinn des Lebens, Malen mit eingeschränkter Handfunktion

Die Seidenmalerei ist eine von Christines Leidenschaften. Den Pinsel hält sie dabei mit einem Flechtgriff. Beim Malen kann sie abschalten.

Interaktiv und mit viel Liebe zum Detail gestaltet

Die Einrichtung und Gestaltung der einzelnen Zimmer widerspiegelt den jeweiligen Charakter, der darin wohnt und die Themen, welch mir die Ausstellung anhand dieser Person vermitteln will. In Stefans Zimmer geht es beispielsweise um die Reiseplanung: Es hängen Weltkarten an den Wänden, in den Regalen stehen Bücher über das Reisen, Koffer stehen bereit, eine dunkle afrikanische Maske ist aufgehängt und ein grosser und imposanter Holzglobus steht im Raum.

Schränkli und Staufläche hat es keine unter der Küchenfläche. Für Menschen im Rollstuhl ist es so viel einfacher, in der Küche arbeiten zu können.

Überall im Zimmer (und in der WG) sind sogenannte Triggerpoints verteilt. Diese aktivieren meinen Audioguide, den ich am Empfang erhalten habe. Ich halte ihn mir ans Ohr und höre Stefan zu, der mir aus seinem Leben erzählt: wie lange er schon im Rollstuhl sitzt, wo überall auf der Welt er schon war und wohin er noch will, worauf er beim Reisen als Rollstuhlfahrer achten muss. Neben den Triggerpoints sind in der ganzen Wohnung auch Touchscreens verteilt, die die verschiedenen Aspekte des Lebens mit Para- und Tetraplegie veranschaulichen.

Die gesamte Küchenfläche inkl. Herd und Abwaschtrog lässt sich elektronisch in der Höhe anpassen.

Das Badezimmer eröffnet die wahre Tragweite

Erst im Badezimmer wird mir jedoch so richtig bewusst, mit welchen Herausforderungen diese vier Personen klar zu kommen haben. Aus den offenen Schubladen hole ich verpackte Katheter heraus, während mir der 17-jährige Matteo im Audioguide erzählt, dass er sich mindestens vier- bis fünfmal täglich selber katheterisiert, wie er sagt, um seine Blase zu entleeren. Er habe jetzt schon viel Übung und es ginge sehr gut, berichtet er mit einer sonderbaren Leichtigkeit. Anders klingt es bei der 68-jährigen Christine. Ihre Tetraplegie lässt es nicht mehr zu, dass sie das selber machen kann. Für die Blasenentleerung ist sie vollständig auf Hilfe angewiesen – das gilt auch für den Darm. Ihre Stimme hat etwas Schwermütiges an sich.

Jede dieser Schubladen gehört einem der vier Bewohnenden. Über den Audioguide erklären sie, wie ihre jeweilige Badezimmer-Routine funktioniert. Hier wird mir klar, was für eine Tragweite eine Para- und eine Tetraplegie im Leben wirklich hat.

Selbstreflexion nach der Ausstellung

Am Wochenende nach dem Besuch des ParaForums verbringe ich einige Tage in einem Wellness-Hotel im Berner Oberland. Immer wieder stelle ich mir vor, im Rollstuhl unterwegs zu sein. Von der Lobby in den Speisesaal und ins Zimmer könnte ich mich dort sogar bewegen, darauf wurde beim Bau scheinbar geachtet. Doch die erholenden Saunagänge und die zügigen Wanderungen hinauf zur Bergspitze für den Morgenkaffee wären definitiv passée. Es kommt mir die Bewohnerin Christine wieder in den Sinn. In der Ausstellung berichtet sie davon, dass sie mit dem Übergang von der Selbstständigkeit in die vollständige Abhängigkeit sehr zu kämpfen hatte. Ich kann mir gut vorstellen, dass ich selber damit auch zu kämpfen hätte – bin ich doch jemand, der das aktive Leben liebt, klettert, rennt und viel in den Alpentälern und auf Bergspitzen unterwegs ist.

Das informative und kreativ aufgebaute ParaForum hat einen bleibenden Eindruck hinterlassen und das Ziel, zu sensibilisieren, bei mir auf jeden Fall erreicht.


Infos und Tipps


Marco ist am Sempachersee aufgewachsen und kennt die Region wie seine Westentasche. Das Schreiben ist seine Passion und er glaubt ungebrochen an die Kraft von spannenden Geschichten. Das hat er zu seinem Beruf gemacht und heute ist er digitaler Marketer und selbstständiger Contentprofi. Marco bloggt für Sempachersee Tourismus, spricht fliessend Digital, fotografiert leidenschaftlich, rennt, klettert, übernachtet im Zelt und seit er einen VW-Bus besitzt, besteigt er eigentlich kaum noch ein Flugzeug.

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