
Über dem Vierwaldstättersee, in der eindrucksvollen Landschaft des Kantons Uri, lebt eine reiche Trachtentradition weiter – liebevoll bewahrt, kunstvoll bestickt und von Generation zu Generation weitergegeben. Seelisberg ist dabei nur eines von vielen Dörfern, in denen die Urner Tracht ihre farbenfrohe und lebendige Gestalt zeigt.
Eine Frau, die diese Tradition verkörpert wie kaum eine andere, ist Martha Zwyssig. Sie wuchs in einer kinderreichen Familie auf, die einen Landwirtschaftsbetrieb neben der Talstation der Seilbahn zur Alp Weid führte. Die Liebe zur Tracht begleitet sie schon ihr Leben lang – zuerst im Stillen, dann mit Nadel und Faden, später mit Tanz und Engagement für die nächste Generation. Wir haben Martha getroffen und sind mit ihr in eine geliebte Tradition eingetaucht.

Zwischen Natur und Nadelstich
Sticken ist für Martha mehr als nur Handwerk. Es ist Kunst. Es ist Meditation. Es ist ein Stück Identität. Gelernt hat sie es von ihrer Mutter, die ebenfalls bereits Trachten genäht und bestickt hat. Und eine ältere Frau aus dem Dorf zeigte ihr als Jugendliche noch den einen oder anderen Trick. Ihre Stickereien entstehen mit beiden Händen gleichzeitig im Stickrahmen – rechts hinunter, links hinauf. Eine akrobatische Fingerfertigkeit, wie es nur wenige können und das Resultat jahrzehntelanger Übung und Hingabe ist.


Schon als junges Mädchen hätte Martha Zwyssig gerne Schneiderin gelernt – doch damals war es eher die Regel arbeiten zu gehen, als eine Lehre zu absolvieren. In den vergangenen Jahren hat sie wieder vermehrt Zeit für ihre Leidenschaft für das Trachtenwerk – das Sticken, Nähen und etwas «umächniiblä» gefunden. «Man ist nie fertig mit dem Lernen», sagt sie. «Ich schau mir eine Blume an, wie sie in der Wiese wächst – und dann stick ich sie. So naturgetreu wie möglich.» Dabei legt sie auch ein Augenmerk darauf, dass die Farben passend sind.
Das Sticken ist die grosse Kunst der Tracht. In Seelisberg ist es üblich, sich an die traditionelle Symbolik zu halten: Die Frauentracht wird mit Gartenblumen bestickt und die Überhemden der Männer mit Alpenblumen wie der Alpenrose, den Türkenbund oder dem Edelweiss.
Die Tracht – mehr als ein Kleid
Die Seelisberger Tracht ist fein und anspruchsvoll. Die Sonntagstracht besteht aus Seide und ist farbenfroh. Jeder Saum, jeder Faltenwurf erzählt von der Sorgfalt, mit der sie gemacht wurde. «Alles was man sieht, wird bei der Frauentracht von Hand gemacht. Und was man nicht sieht, wird genäht.», ergänzt Martha Zwyssig. Eine Tracht von A bis Z ist ein Meisterwerk und längerer, schöner Prozess – dabei ist der Aufwand in Stunden schwer zu beziffern. Auf 100 Stunden kommt man rasch.
Auch bei den Männern steckt viel Handarbeit im Detail. Ein einziges «Uberhämmli» – das traditionelle Männerhemd – kann zwischen 60 und 120 Stunden reine Stickzeit verschlingen. «Und das ist nur die Stickerei», ergänzt Martha, mit einem Schmunzeln, das Erfahrung verrät.


Vielfalt in Falten – Die Urner Tracht
Die Urner Tracht ist so vielfältig wie der Kanton selbst. Zwar gibt es eine gemeinsame Linie, etwa die typische Faltenanordnung an den Röcken oder die kunstvolle Stickerei – doch jede Trachtengruppe aus den verschiedenen Gemeinden bringt ihre eigene Farbe und Formen ins Spiel. Die Urner Sonntagstracht gilt dabei als festlichste Version und besteht vor allem aus Seide: In Flüelen erstrahlt sie ganz in Rot, die Urschner integrieren das Grün aus ihrem Dorfwappen und die Schächentaler Tracht präsentiert sich mit einem eleganten schwarzen Mieder mit gestreiftem Rock. Die Urner Werktagstracht hingegen ist schlichter, aber nicht weniger bedeutungsvoll. Sie wird mehrheitlich aus Baumwolle gefertigt, ist blau mit gelb und rotem quadriertem Muster. Diese regionalen Unterschiede machen die Urner Trachtenlandschaft besonders lebendig und zeigen: Tradition kennt viele Gesichter.

Gemeinschaft und Bewegung
Was Martha Zwyssig besonders bewegt, ist der Erhalt und die Weitergabe der Trachtentradition und die Pflege von altem Brauchtum. Als Kommissionspräsidentin für Trachtenkleidung der «Trachtälyt vo Seelisbärg» organisiert sie verschiedene Nähkurse, gibt Auskünfte, beantwortet Fragen zur Urner Tracht, hilft bei Anpassungen oder macht auch mal eine neue Tracht. Nebenbei tanzt sie bei den «Trachtälyt vo Seelisbärg», auch als Tanzleiterin. Wöchentlich, je einmal mit den Erwachsenen und einmal mit den Kindern. Vor allem über den schönen Zuwachs in der Kinder- und Jugendtanzgruppe freut sie sich sehr. Denn Tradition ist alles andere als verstaubt. Die Kinder und Jugendlichen sind stolz darauf, die Urner Tracht tragen zu dürfen.
Die Tanzgruppe der Trachtenvereinigung Seelisberg ist am 1. August und zur Chilbi in Seelisberg besonders sichtbar. Ab und zu kommen noch weitere Anlässe dazu. 2025 feiert die Trachtengruppe Seelisberg ihr 75-jähriges Jubiläum – mit Tänzen, Musik und natürlich in voller Tracht. Der Jubiläumsheimatabend findet am 22. November 2025 in der Turnhalle in Seelisberg statt. «Darauf freue ich mich schon sehr. Auch werden wir hierfür neue Tänze einstudieren.», ergänzt Martha mit einem leuchten in den Augen.

Warum Tradition Zukunft braucht
Martha Zwyssigs Lebensgeschichte zeigt eindrücklich: Eine Tracht ist nicht einfach nur ein historisches Kleidungsstück. Sie ist Ausdruck von Heimat, von Naturverbundenheit und Handwerkskunst. Doch das Wissen um Materialien, Techniken und Bedeutungen droht zu verschwinden – sei es durch mangelnden Nachwuchs, veränderte Produktionsbedingungen oder schwindende Wertschätzung. «Man muss nicht immer alles neu erfinden», sagt Martha. «Es ist schön, wenn man das Traditionelle bewahrt – so gut wie möglich.»
Die Tracht ist ein schönes Beispiel dafür, wie altes Wissen in modernen Zeiten bestehen kann. Nicht als Museumsstück, sondern lebendig – getragen, getanzt, gestickt, geteilt. So freut es Martha auch über die Gemeindegrenze hinaus, dass vor allem die Männer an Festivitäten, für den Gang zur Kirche oder auch mal zu einer traditionsbewussten Hochzeit das «Uberhämmli» tragen. Wenn in Uri die Trachten getragen werden, auch wenn dies nicht mehr so oft vorkommt wie anno dazumal, spürt man: die tief verwurzelte Kultur und Tradition lebt.
Mehr zur vielfältigen Urner Kulturlandschaft mit ihren gelebten Traditionen unter: www.uri.swiss/urner-alpsommer.
