Fitness für Schienenfahrzeuge

Kategorien Tradition, Uri

Im historischen Lokomotivdepot Erstfeld kümmern sich die Mitglieder des SBB Historic Team Erstfeld um die historischen Triebfahrzeuge. Während des Sommerhalbjahres steht an jedem ersten Samstag im Monat der «Arbeitssamstag» auf dem Jahresprogramm. Dabei werden die Fahrzeuge in der Freizeit durch die Teammitglieder gewartet.

Der erste Samstag ist dick in der Agenda

Die Felswand im Erstfeldertal strahlt im morgendlichen Sonnenlicht, während hier unten das Dorf Erstfeld noch ruhig in der Dämmerung schläft. Cedric und ich steigen aus dem Interregio und begeben uns zu den Kollegen ins Café bei der Bäckerei vor dem Depot. Wie immer bei unserem Team ist hier um 07.30 Uhr Treffpunkt. Auch die Bestellungen sind immer gleich. Pascal nimmt einen Kaffee mit einem Glas Orangensaft und Charly «Menü eins mit Suppe» was hier ein Kaffee mit einem Glas Wasser ist. Bei mir meint Astrid nur kurz: «Dir dänk nüt Nüüs». Man kennt sich.

Der morgendliche Kaffeeklatsch ist Kultur. Die Lokführer erzählen von ihren Erlebnissen auf der Schiene, die Eisenbahn-Amateure von ihren gesehenen Lokomotiven und die Vorstandsmitglieder von den letzten Mails. Das SBB Historic Team Erstfeld ist ein bunter Haufen: Knapp ein Dutzend Lokführer, Elektroingenieure, Mechaniker, Informatiker, Bauleute und sogar eine Bierbrauerin stehen auf der Mitgliederliste. Wir treffen uns heute in der Freizeit zum «Arbeitssamstag».

Seit Jahren ist der erste Samstag im Monat dick in meiner Agenda eingetragen. Von April bis Oktober finden immer am ersten Samstag im Monat die Fitnessfahrten statt. Diese dienen zum Bewegen der historischen Triebfahrzeuge. «Die Fahrzeuge stehen einfach zu viel im Depot und haben zu wenig Kilometerleistung», meint Röbi Schlatter, unser Technische Leiter. «In einem Jahr fahren die Fahrzeuge so viel wie in der aktiven Zeit an zwei Tagen».
Die Fitnessfahrten locken auch die «Pufferküsser» nach Erstfeld. Das «Krokodil» oder die Doppellok Ae 8/14 beim Fahren zu fotografieren bringt sie ins schwärmen.

Aufs Dach und an den Fahrmotor

In meinem Garderobenschrank steht der Overall vor lauter Maschinenfett fast von selber. Vom ehemaligen leuchtenden Warnorange sind noch knapp die Leuchtstreifen zu erkennen. Giorgio nennt mich mal wieder Schmutzfink.

Nach dem Umziehen kontrolliere ich das Wichtigste für meine heutigen Arbeiten: Ist die Fahrleitung ausgeschaltet, ist der Hörnerschalter offen und nicht verbunden, sind alle Schlüssel zum Einschalten der Fahrleitung gesichert und ist die Fahrleitung geerdet? Ich will heute die letzten Kontrollarbeiten auf dem Dach des BDe 4/4 – unser Salontriebwagen – ausführen. Dazu gehört die Kontrolle des Stromabnehmers, der im Betrieb den Strom aus der Fahrleitung abnimmt. Dauernd schlage ich meinen Helm an der Fahrleitung an. Eine skurrile Szene, wenn man bedenkt, welche Masse an elektrischem Strom hier normalerweise durchfliesst. Auch die Kontrolle der Kohlestücke beim Fahrmotor 2 steht auf meiner Liste, schliesslich besitzen auch elektrische Lokomotiven Kohlestücke.

Roli Seehaus am Messen der Kohlestücke beim Fahrmotor 2 des BDe 4/4 Salontriebwagen
Der BDe 4/4 nach der Kontrolle und der späteren Reinigung vor dem Lokomotivdepot

Ich bin Maschinenmeister des BDe 4/4 Triebwagens. Zusammen mit unserem Technischen Leiter Röbi sorge ich dafür, dass meine Maschine betriebsbereit ist und in einem ordentlichen Erscheinungsbild auftritt. Der BDe 4/4 ist zwar nicht das Kronjuwel unserer Sammlung. Eigentlich ist er praktisch nie am Gotthard gefahren. Nachdem er für 10 Jahre (1995 – 2005) als «Schulinfozug» für die SBB unterwegs war, kam er 2005 nach Erstfeld. Im ehemaligen Personenabteil wurde eine Bar eingebaut und die Tische und Sessel aus dem ehemaligen Bundesratswagen fanden darin eine neue Verwendung. Die Rückwand zum Führerstand wurde ausgebaut und bietet heute einen einmaligen Ausblick auf den Arbeitsplatz des Lokführers und die befahrene Strecke. Eine Fahrt mit Gästen über die Gotthardstrecke ist auch für mich als Reiseleiter und Begleiter immer wieder ein tolles Erlebnis.

Die schwere Dame hält auf Trab

Auch heute arbeiten zwei Kollegen an einem Kronjuwel unserer Sammlung. Die Ae 8/14 11801 stellt mit ihren stattlichen 240 Tonnen Gewicht und 34 Meter Länge ein Riesending dar und wird von uns liebevoll «schwere Dame» genannt. Doch die schwere Dame aus den späten 1920er Jahren macht heute auf zickige Diva. Mal will die Zugsicherung nicht richtig funktionieren, dann arbeiten die beiden Stufenschalter nicht gleichmässig und auch die Schmierung bei den Gleitlagern der Radsätze liegt meinen 8/14-Kollegen auf dem Magen.

Am Nachmittag steht eine Testfahrt im frischen Schnee an. Langsam aber lautstark schleicht die Ae 8/14 aus dem Depot. Wunderbar «klöpfen» die beiden Stufenschalter im Takt. Es läuft. Die Diva fühlt sich im frischen Schnee sichtlich wohl. Die Zugsicherung und die Stufenschalter werden geprüft. Und dann geschieht es. Bei der Retourfahrt ins Depot, genau auf der wichtigsten Weiche vor dem Depot, bleibt die Diva stehen. Es zischt. Für Pascal Mangold auf dem Führerstand ist klar, sie verliert Luft und somit kann auch die Bremse nicht gelöst werden. Ich schreite die 34 Meter ab und auf den ersten Blick ist die Ursache klar. Bei der Trennstelle der beiden Loks hat sich ein Bremsschlauch gelöst. Cedric ist schon mit Schraubenzieher vor Ort. Er ist unser Profi, zumal er «in seinem richtigen Leben» in der Hauptwerkstätte bei der SBB in Zürich arbeitet. Nach zwei Minuten ist die Ae 8/14 wieder fahrbereit und Cedric meint gelassen:

«Das ist das Schöne an den historischen Lokomotiven; man sieht sofort wenn etwas nicht geht und muss nicht zuerst den Computer anhängen.»

Das Fitnessprogramm neigt sich dem Ende

Auch bei unserem Arbeitssamstag geht am späteren Nachmittag langsam die Luft aus. Giorgio muss nach Hause, er hat noch einen familiären Termin, Pascal Gaberell darf noch an ein Nachtessen, auf Charly wartet noch die Aufführung im Dorftheater und der Rest der Mannschaft genehmigt sich noch das Feierabendbier im Hirschen. Und so endet wieder ein Arbeitstag, ohne Stundenliste, ohne Abrechnungsblatt und ohne Lohnausweis, doch mit erfreutem Herzen, dass die historischen Triebfahrzeuge wieder ihr Fitnessprogramm absolvieren konnten.

Testfahrt in den frischen Schnee mit der Ae 8/14
Nichts geht mehr auf dem Führerstand bei Pascal. Die Ae 8/14 verliert Luft und somit kann die Bremse nicht gelöst werden.

Infos und Tipps


Gast-Bloggerin: Roli Seehaus fühlt sich mit Schraubenzieher in den schmutzigen Händen wohl. In seiner Freizeit ist der Bauleiter gerne im Lokomotivdepot Erstfeld von SBB Historic anzutreffen oder mit dem Fotoapparat beim Wandern im Urnerland.

Menschen aus der Region Luzern-Vierwaldstättersee. Sie berichten über ihre persönlichen Erlebnisse, plaudern aus dem Nähkästchen und verraten unbekannte Schätze aus der Region. Ob Malerin, Grafiker oder Bauarbeiter. Sie alle verbindet die Begeisterung für ihre Region.

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